Entwurzelte Bäume~ der Umgang mit älteren Menschen in unserer Gesellschaft

Heute habe ich wieder meine Großtante im Altenheim besucht. Sie sieht blendend aus und es geht ihr dementsprechend. Da sie sich zu ihrer Freundin „Kathi“ setzen wollte, sind wir vom Gemeinschaftsraum im oberen Stock zu Kathi gegangen, die mit ihrer Schwester und einer weiteren älteren Frau dort saß. Nennen wir diese Frau Susanne.

Susanne ist eine großgewachsene Frau. Sie hat fast schneeweiße Haare und himmelblaue Augen. Sie ist sehr, sehr schön und elegant angezogen und doch stört mich etwas an ihr. Sie lacht nicht. Sie lacht so gut wie nie, obwohl sie etwas so Feines und Liebes ausstrahlt, dass man sich am liebsten zu ihr setzen würde. Susanne sitzt und häkelt aus mehreren Wollknäuel einen Zopf, der zu einem eigenen Knäuel zusammen gerollt wird. Diesen Knäuel brauchen die Menschen dort, den daraus machen sie wirklich schöne Teppiche. Sie sitzt also dort und häkelt. Ihre Nadel umfasst bedächtig die Fäden, während wir wie die Wirbelwinde reden und lachen. Sie zieht die Fäden durch eine Schleife durch und verzieht keinen Mundwinkel.

Wer in Susannes Augen sieht, merkt, dass sie nicht da ist. Sie wirkt, als wäre sie abgetaucht. In eine andere Welt. In eine frühere Zeit, wo alles noch gut war. Wenn man sie direkt anspricht, dann umspielt ein schüchternes und fast unsichtbares Lächeln ihre Mundwinkel, das schnell erstirbt und es bricht einem das Herz, sie so zu sehen. Es ist das Erste Mal, dass ich sie sehe und doch fühle ich, dass Etwas nicht stimmt.

Als wir gehen, lächelt sie wieder kurz, während meine Großtante mit den anderen Frauen und meiner Mutter und Witze macht. Im Auto spreche ich meine Mutter auf Susanne an. „Mama, wieso war diese Frau so traurig?“ Die Augen meiner Muter werden traurig und plötzlich wütend. „Weißt du, Frau Susanne ist eine sehr nette Frau. Sie hat allerdings mit ihrer Familie viel mitgemacht“. Und dann erzählt sie mir Unglaubliches.

Nach einem normalen Schwächeanfall, der mit dem Alter nicht viel zu tun hat, verbietet ihr Sohn, ihr ihre Wohnung zu betreten. Sie sei zu alt dafür und er wolle, dass sie in ein Altenheim gehe. In dem Dorf in dem sie wohnt, scheint die Sonne sogar im Winter sehr lange. Sie liebt dieses Dorf. Es ist ihr zuhause. Und es hat ein Altenheim, genau gegenüber der Kirche und bevorzugt noch dazu die älteren Personen aus dem Dorf, wenn es um einen Platz dort geht. Susanne will keinen Streit, denn dafür ist sie zu gutherzig. Sie ist zu dieser Zeit ein Jungbrunnen und lacht, macht Witze, erzählt und ist rüstig. Sie fühlt sich für ein Altenheim nicht bereit, denn sie kann sogar den Haushalt völlig ohne fremde Hilfe bewältigen. Trotzdem soll sie in ein Altenheim und nicht in ihrem Dorf. Das Altenheim, hätte sie sofort aufgenommen. Es ist nigelnagelneu und die Menschen reisen sich um die Plätze dort. Alles ist lichtdurchflutet und alleine beim Vorbeifahren wird einem wohlig ums Herz. Stattdessen wird sie gezwungen in ein anderes Altenheim zu gehen, in ein anderes Dorf, wo das Altenheim zwar auch schön ist, wo sie sich aber nicht zuhause fühlt. Wo einem Baum, die Wurzeln ausgerissen werden. Anordnung der Schwiegertochter. Wenn die sie besucht, dann sitzt die Frau alleine am Tisch, während ihre Schwiegertochter mit allen anderen Leuten redet, sie ist nämlich in der Politik tätig.

Meine Großtante und meine Tanten, sowie Mama, setzen sich immer zu ihr. Meiner Mutter tut es unheimlich Leid für die gute Frau. Einst ein Jungbrunnen, scheint sie nun regelrecht depressiv. Sie verschließt sich, sie redet fast nicht mehr und ihr Blick ist von Trauer erfüllt. Ihre Kinder und besonders ihre Schwiegertochter, dürfen ein gutes Erbe genießen, ihr selbst bleibt ihre Wohnung und sogar ihr Dorf verwehrt. Ein Sohn, der meine Mutter besser kennt, sagt immer, dass er gegen seiner Schwägerin nichts ausrichten könne und dass er halt auch nicht wisse was zu tun sei. Als er sie einmal besuchen ging, verschwieg er Susanne, dass er nur durch Zufall sah, dass eine Feier im Altenheim stattfand und dass er gar nie vorgehabt hätte, sie zu besuchen. Das ist gut so, denn Susanne glaubt, dass er extra wegen ihr gekommen ist.

Mich lässt Susanne nicht in Ruhe und ich versteh nicht, wie man seine Mutter bzw. Schwiegermutter so behandeln kann. Meine Mama sagt, dass sie jedes Mal ein bisschen trauriger und stiller wird, wenn sie ihre Tante besuchen geht und sie sieht. Es ist einfach traurig.

Und mir fällt generell auf: wer in der Gesellschaft nicht leisten kann oder nicht mehr leisten kann, wird manchmal sogar von der eigenen Familie wie jemand Aussätziges behandelt, wie jemand mit dem man alles tun kann, vor dem man keinen Respekt haben muss, wie jemand, den man sich entledigen kann, wenn man nicht mehr will. Und ich glaube, dass viele ältere Personen in den Altenheimen ihr trauriges Schicksal teilen.

Manchmal sitzt Susanne am Fenster und schaut zu ihrem Dorf. Man sieht es von einem Fenster aus und sie zeigt mit dem Finger dorthin und sagt: „Dort wo die Sonne scheint, dort bin ich zuhause“.

6 Gedanken zu “Entwurzelte Bäume~ der Umgang mit älteren Menschen in unserer Gesellschaft

  1. Kenne leider auch solche Fälle und auch solche Verwandtschaft aus meinem Bekanntenkreis. Sehr traurig diese armen Menschen zu sehen und mitzuerleben wie sehr sie ihr zuhause vermissen und sich abgeschoben fühlen. Schön wenn es dann Menschen wie dich und deine Oma gibt!

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    1. Dankeschön! Mir hat sie so leid getan, ich verstehe das einfach nicht… Sie hat ihren Kindern alles gegeben und die lassen sowas mit ihr von einer Schwägerin machen…

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  2. Sie ist ja eine mündige Person also kann sie in das andere heim umziehen, vielleicht braucht Sie dabei einfach Unterstützung.. oder ist Sie entmündigt worden? Ich denk da kann geholfen werden, da muß man auch nicht mit den Kindern diskutieren, das geht die nämlich nichts an.

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    1. Hallo 🙂 also bei ihr ist der psychische Druck einfach enorm und sie fügt sich dem leider… Ich finde es schade aber so geht es vielen älteren Menschen. Sie wollen nicht tun aber für die Familie alles. Das finde ich traurig, leider aber auch nachvollziehbar. Alles Liebe

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      1. Ja das ist sehr sehr traurig…Sie bräuchte wahrscheinlich jemand vertrauten..aber so wie Du es sagst kann ich das auch nachvollziehen

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